Unter mathematischer Strenge (in etwas anderem Zusammenhang oft auch mathematischer Präzision) wird eine klare logische Vorgehensweise innerhalb der Mathematik und anderer auf ihr basierender Wissenschaften verstanden. Sie umfasst zum einen die axiomatische Vorgehensweise anhand scharfer Definitionen und zum anderen zwingende Beweise. Weiter wird die Methode der systematischen Deduktion angestrebt. Als Konsequenz sind mathematische Sätze prinzipiell endgültige und allgemeingültige Wahrheiten, so dass die Mathematik als die exakte Wissenschaft betrachtet werden kann. Mathematische Strenge ist kein Selbstzweck, sondern notwendiges Mittel, um bleibenden Fortschritt in der Mathematik zu ermöglichen. Auch ist sie im griechischen Sinne eine gute Schule des Denkens. In der Nachwirkung ergibt sich durch die mathematische Strenge auch eine Vereinfachung mathematischer Betrachtungen.

Geschichte

Bereits in der griechischen Mathematik finden sich insbesondere bei Euklid in seinen Elementen (Ende 4. Jh. v. Chr.) erste Versuche mathematischer Strenge durch Axiomatisierung und systematische mathematische Deduktion. Es wurde in der Antike jedoch oft eine weniger strenge Behandlung der Mathematik als die euklidische vorgezogen. Auch war klar, dass sich das Prinzip der mathematischen Strenge nicht auf alle Wissenschaften übertragen lässt. So schreibt Aristoteles „Mathematische Strenge ist nicht in allen Dingen zu fordern, wohl aber in den unmateriellen.“ Nach einer längeren Periode der Stagnation begann erst im 17. Jahrhundert ein Aufschwung der mathematischen Wissenschaften mit der analytischen Geometrie und Infinitesimalrechnung. Das griechische Ideal der Axiomatik und systematischen Deduktion war jedoch den produktiven Mathematikern dieser Zeit hinderlich. Die Ergebnisse spielten eine größere Rolle als der Weg dorthin. Ein starkes intuitives Gefühl und eine fast blinde Überzeugung von der Kraft der neu erfundenen Methoden rechtfertigte zunächst dieses Vorgehen. Das Zeitalter der beginnenden Industrialisierung unterstützte diese Form noch weiter. Mit dieser Selbstsicherheit sagte noch 1810 Sylvestre Lacroix: „Solche Spitzfindigkeiten, mit denen sich die Griechen abquälten, brauchen wir heute nicht mehr.“

Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die stark zunehmende Fortschrittsgläubigkeit durch eine neu erwachende Selbstkritik abgelöst. Es kam das Bedürfnis nach Sicherung der Ergebnisse und Klarheit. Unterstützt wurde dieser Prozess nach der französischen Revolution durch eine starke Popularisierung der Wissenschaften.

Die Disquisitiones Arithmeticae von Carl Friedrich Gauß gelten als eines der ersten mustergültigen Werke mathematischer Strenge. Es ist ganz im Stil von Satz – Beweis – Korollar geschrieben, enthält keine Motivation der eingeschlagenen Beweisrichtungen und verbirgt sorgfältig die Art und Weise, wie Gauß zu seinen Entdeckungen kam. Der letzte Aspekt beruht jedoch teilweise auf dem Erfordernis mathematischer Strenge und nicht auf einer besonderen Eigenart von Gauß. Er hängt mit der weiter unten diskutierten Forderung nach absoluter „Redundanzfreiheit“ zusammen.

Durch die Arbeiten von Augustin Louis Cauchy und Karl Weierstraß wurde insbesondere die Infinitesimalrechnung auf eine sichere und strenge Grundlage gestellt. Das 19. Jahrhundert war somit gekennzeichnet durch eine erfolgreiche Besinnung auf das klassische Ideal der Präzision und der Strenge der Beweisführung, wobei das Vorbild der griechischen Wissenschaft noch übertroffen wurde. Bereits vor Cauchy hat Bernard Bolzano 1817 mit der Arbeit Rein analytischer Beweis des Lehrsatzes, daß zwischen zwey Werthen, die ein entgegengesetztes Resultat gewähren, wenigstens eine reelle Wurzel der Gleichung liege einen wichtigen Beitrag zur strengen Behandlung der Analysis geliefert.

Zitate

Einer der Hauptverfechter mathematischer Strenge, verbunden mit enormer Vielseitigkeit, war David Hilbert. Er formulierte auf dem Internationalen Mathematiker-Kongress 1900 in Paris:

Alexander Danilowitsch Alexandrow sagte:

Redundanzfreiheit

Die oben angedeuteten persönlichen Eigenschaften von Carl Friedrich Gauß wurden von den Mathematikern quasi „internalisiert“, und zwar durch das implizit oder explizit geforderte Prinzip der Redundanzfreiheit: Alle überflüssigen Aussagen sollen eliminiert werden und das Verständnis des Gesagten wird dem Leser überlassen (sachliche Richtigkeit und Wichtigkeit vorausgesetzt). In einer typischen mathematischen Arbeit sind daher außer Satzaussagen, Voraussetzungen sowie der Durchführung von Beweisschritten bestenfalls noch begründende Aussagen der folgenden Art erwünscht: „Dieses Resultat ist deshalb wichtig, weil …“, sodass die einzelnen Aussagen zumindest in die richtigen Zusammenhänge gebracht werden. Dieses Prinzip der „Redundanzfreiheit“ ist für die Realisierung mathematischer Strenge nützlich bzw. notwendig und verbietet persönlich gefärbte Zusätze als „überflüssig und u. U. sogar schädlich für die Sache“, ist aber gleichzeitig eines der größten Hindernisse für die Verständlichkeit vieler mathematischer Aussagen, bzw. allgemein ein Hauptgrund für die oft beklagte Unverständlichkeit des „mathematischen Stils“ mit seinen Lemmata, Theoremen und Korollaren samt der Undurchschaubarkeit vieler dazugehöriger Beweise.

Die Bourbakisten

Besonders ausgeprägt, und zunehmend abstrakter, wurde der „mathematische Stil“ in den unter dem Pseudonym Nicolas Bourbaki veröffentlichten Arbeiten, umfangreichen Handbüchern, einer Gruppe hervorragender französischer Mathematiker, die von 1934 ab eine Gesamtdarstellung der Mathematik anstrebten. Nach jahrzehntelang dominierendem Einfluss dieses Autorenkollektivs ist aber gegenwärtig die Tendenz zunehmender Strenge und Abstraktion anscheinend eher leicht rückläufig.

Siehe auch

  • Intuitionismus (Logik und Mathematik)
  • Formalismus (Mathematik)

Literatur

  • Günther Eisenreich, Ralf Sube: Langenscheidts Fachwörterbuch Mathematik: englisch, deutsch, französisch, russisch. 4. Auflage. Langenscheidt, Berlin 1996, ISBN 3-86117-074-4.  Auf S. 499 (M 171) [GN general] ist ausgewiesen: mathematical rigor, mathematische Strenge, riguer mathématique; S. 726 (R 1305) [GN general] rigorous proof, strenger Beweis, démonstration rigoureuse
  • Richard Courant, Herbert Robbins: Was ist Mathematik? Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg 2000, ISBN 3-540-63777-X. 
  • Hans Niels Jahnke (Hrsg.): Geschichte der Analysis. Spektrum Akademischer Verlag, Berlin 1999. 
  • Oskar Becker: Grösse und Grenze der Mathematischen Denkweise. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1959, Kritische Begründung der Analysis, S. 108–111 (Studium Universale). 
  • Harro Heuser: Lehrbuch der Analysis. 11. Auflage. Teil 2. Teubner, Stuttgart 2000, ISBN 3-519-42234-4, Kapitel 29: Ein historischer tour d’horizon, Abschnitt: Die neue Strenge, S. 689–700. 
  • Philip Davis, Reuben Hersh: Erfahrung Mathematik. Mit einer Einleitung von Hans Freudenthal. Aus dem Amerikanischen von Jeannette Zehnder. 2. Auflage. Birkhäuser, Basel 1996. 
  • Tom Archibald: The Development of Mathematical Rigor in Analysis. In Timothy Gowers, June Barrow-Green, Imre Leader(Hrsg.): The Princeton Companion to Mathematics. Princeton University Press 2008, ISBN 978-0-691-11880-2, S. 117–129 (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA)
  • Israel Kleiner: Rigor and Proof in Mathematics: A Historical Perspective. (PDF; 410 kB) In: Mathematics Magazine, Vol. 64, No. 5 (Dec., 1991), S. 291–314
  • Haskell Brooks Curry: Some aspects of the problem of mathematical rigor. (PDF; 2,3 MB) In: Bulletin of the American Mathematical Society, 1941
  • James Pierpont: Mathematical rigor, past and present. In: Bulletin of the American Mathematical Society, 1928

Weblinks

  • Eric W. Weisstein: Rigorous. In: MathWorld (englisch).

Einzelnachweise


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